Gesichter des Kapitalismus: Die Dardenne-Perspektive
| News Sammlung - Amt 41-214
Anlässlich der Bucherscheinung von Luc Dardenne: Die Rückseite unserer Bilder I (1991-2005), herausgegeben von Marcus Seibert, zeigen wir im Filmmuseum eine Werkschau der Filme von Jean- Pierre und Luc Dardenne. Das Filmmuseum bietet in Kooperation mit der Filmwerkstatt Düsseldorf durch die Präsentation des Gesamtwerkes eine filmische Auseinandersetzung mit den sozialen und ökono mischen Bruchstellen unserer Zeit. Seit ihrem internationalen Durchbruch mit LA PROMESSE im Jahr 1996 widmen sich die Brüder einer präzisen, unaufdringlichen Inszenierung, die den Menschen im Kontext seiner sozialen Bedingungen zeigt, ohne diese je zu isolieren. Ihre Filme zeichnen sich durch eine formale Strenge und moralische Komplexität aus und nehmen konsequent die Perspektive der Marginalisierten – jener, die unter dem Druck des neoliberalen Wettbewerbs an den Rand gedrängt werden – ein.
Im Zentrum stehen stets Figuren, die nicht nur vom gesellschaftlichen System übersehen, sondern aktiv ausgeschlossen werden: Jugendliche ohne familiären Halt, Arbeitssuchende, die um ihre Existenz kämpfen, oder Migrant*innen, deren Leben von ökonomischer Verwertungslogik bestimmt ist – die Dardennes erzählen von Menschen, deren Lebensrealitäten in politischen oder wirschaftlichen Diskursen oftmals nur als Fußnoten erscheinen. Dabei geht es den beiden Regisseuren weniger um eine sentimentale Opferperspektive als um die Darstellung eines Ringens um Würde, Autonomie und Bindung in einer Welt, die ihnen solche Werte systematisch abspricht.
Formal nähert sich das Werk der Brüder einer dokumentarischen Präzision, die durch lange Einstellungen, natürliche Beleuchtung und die enge Verfolgung ihrer Figuren die Körperlichkeit des Gezeigten betont. Besonders die unruhige Kameraführung – dicht an den Protagonist*innen, oft deren Rücken folgend – macht die Zuschauenden zu Begleiter*innen und Zeug*innen, die das Gefühl von Bewegung und Rastlosigkeit teilen. So wird die materielle Welt der Figuren, ihre Umgebung, ihre Arbeit und ihre Handlungen zum Ausdruck der strukturellen Gewalt, unter der sie leiden. Doch diese Nähe ist nicht voyeuristisch; sie erzeugt keine Betroffenheit, sondern hinterfragt die Bedingungen ihrer Existenz.
Die Kapitalismuskritik der Dardennes ist subtil, aber konsequent. Ihre Filme verweben individuelle Schicksale mit den Mechanismen eines Systems, das Solidarität durch Konkurrenz ersetzt und soziale Bindungen ökonomischen Kalkülen unterordnet. In ihrer Bildsprache liegt keine Anklage, sondern die Aufforderung, den Blick auf die Brüche der Gesellschaft zu richten, die im Verborgenen wirken.
Mi 12. März 20:00: Eröffnung der Filmreihe mit Buchvorstellung von Marcus Seibert (Hrsg.) in der Black Box.
Sa 26. April: Masterclass mit Luc Dardenne in der Filmwerkstatt Düsseldorf, Anmeldung unter wagner@filmwerkstatt-duesseldorf.de.
So 27. April 18:00: Publikumsgespräch mit Luc Dardenne in der Black Box.
Das Programm:
MI 12.3. 20 Uhr
LE CHANT DU ROSSIGNOL · ERÖFFNUNG
B 1978 · 52 min · OmU · digitalHD · ab 18 · R/B/K: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
LE CHANT DU ROSSIGNOL, einer der frühen Filme von Jean-Pierre und Luc Dardenne, zeigt bereits Ansätze jener filmischen Handschrift, die später ihr Werk prägen sollte. Der dokumen - tarische Stil und die Konzentration auf soziale Marginalisierung deuten darauf hin, wie intensiv sich die Brüder mit den Bedingungen menschlicher Existenz auseinandersetzen. Der Film, inspiriert von den Werken des Widerstandskämpfers und Journalisten Albert Jacquard, untersucht die Auswirkungen von sozialer Isolation und Ungleichheit auf Gemeinschaften, ohne dabei belehrend oder moralisch zu werden. Im Zentrum steht eine lose verknüpfte Erzählung, die das Leben von Arbeiter*innenfamilien in einer belgischen Industriestadt beschreibt. In fragmentarischen Episoden verwebt der Film intime Momente mit einem kritischen Blick auf die politischen und ökon-omischen Zwänge, denen die Figuren unterworfen sind. LE CHANT DU ROSSIGNOL ist dabei weniger ein Narrativ als ein Versuch, soziale Strukturen sichtbar zu machen und hinter die Oberfläche des Gezeigten zu blicken.Vor Filmbeginn wird Marcus Seibert (Herausgeber und Übersetzer) das Buch Die Rückseite unserer Bilder I (1991–2005) von Luc Dardenne vorstellen.
MI 19.3. 20 Uhr
ROSETTA
B·F 1999 · 94 min · OmU · 35mm · FSK 12 R/B: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne · K: Alain Marcoen · D: Émilie Dequenne, Fabrizio Rongione, Anne Yernaux, Olivier Gourmet, Bernard Marvaix u.a.
Der zweite Spielfilm von Jean-Pierre und Luc Dardenne ist eine eindringliche Studie über den Kampf um Würde und Zugehörigkeit in einer prekären Gesellschaft. Die Kamera folgt der Protagonistin, gespielt von Émilie Dequenne, in fast dokumentarischer Nähe, wobei die verwackelten Bilder ihre rastlose Suche nach Arbeit spürbar machen. Der Film beginnt mit Rosettas Entlassung.Rosettas Alltag wird durch routinierte Abläufe geprägt: das Wechseln der Schuhe am Waldrand, die beschämte Heimkehr in den Wohnwagenpark, stille Momente der Beobachtung. Diese scheinbar banalen Rituale werden zu Akten des Widerstands und der Selbst-behauptung. ROSETTA ist dabei weder Appell noch bloße Sozialkritik. Die Inszenierung dehnt die kapitalistische Effizienzlogik aus, indem sie die Zeit der Routinen sichtbar macht und so Autonomie innerhalb erdrückender Bedingungen aufzeigt. Der Film vereint eine intime Charakterzeichnung mit struktureller Kritik zu einer präzisen und schonungslosen Erzählung.
SA 22.3.20:00
LE FILS · DER SOHN
B·F 2002 · 103 min · OmU · 35mm · ab 18 · R/B: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne · K: Alain Marcoen · D: Olivier Gourmet, Morgan Marinne, Isabella Soupart, Nassim Hassaini, Kevin Leroy u.a.
Olivier ist Schreiner und Ausbilder, der in einem Berufsausbildungs-zentrum Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen eine Perspektive bietet. Eines Tages begegnet er Francis, ein neuer Lehrling, der nicht weiß, dass der Ausbilder indirektes Opfer seines vorher verübten Verbrechens ist. In der Enge des Werkraums und durch die wiederkehrenden alltäglichen Gesten entfaltet sich eine stille Spannung, die den Ausbilder Olivier in einen inneren Konflikt zwischen Rache und Vergebung stürzt.LE FILS erforscht den komplexen, beinahe spirituellen Prozess der Vergebung, der nicht als Versöhnung verstanden wird, sondern als eine Form der Auseinandersetzung, die Oliviers persönliche und moralische Grenzen testet. Vergebung wird hier zu einem Akt des Ringens, der weniger Erlösung bietet als vielmehr eine intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Schmerz. „Wie der Meister an seinen Lehrling, heftet sich die Kamera an die Bewegungen Oliviers und vollzieht seine Gesten (und damit sein Interesse) aus nächster Nähe mit. Der materialistische Blick auf ihr Zusammentreffen lässt LE FILS […] nach ROSETTA zu einer weiteren meisterhaften Studie menschlichen Verhaltens unter extremen Bedingungen werden.“ (Der Standard, 5. Februar 2005)
MI 26.3.20 Uhr
L’ENFANT · DAS KIND
B·F 2005 · 95 min · DF · 35mm · FSK 12 · R/B: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne · K: Alain Marcoen · D: Jérémie Renier, Déborah François, Jérémie Segard, Olivier Gourmet, Fabrizio Rongione u.a.
Im Zentrum des Films steht Bruno, ein junger Mann, dessen Vorstel-lungen von Freiheit und Verantwortung stark von der Realität seiner sozialen Umstände geprägt sind. Bruno bewegt sich durch sein Leben wie ein Geschäftsmann, immer auf der Suche nach dem nächsten kurzfristigen Vorteil, ohne Rücksicht auf Bindungen oder langfristige Folgen. Als er jedoch eine Entscheidung trifft, bei der sein Kind in den Mittelpunkt eines fragwürdigen Deals gerät, wird er mit einer Konsequenz konfrontiert, die seine eigene Gleichgültigkeit durchbricht. Die Dardenne-Brüder inszenieren diese Transformation als schmerzhafte, nahezu körperliche Erkenntnis. Bruno wird zum Spiegelbild einer Gesellschaft, in der Beziehungen von ökonomischen Abwägungen und existenzieller Unsicherheit geprägt sind. In langen, ruhigen Einstellungen lässt der Film Raum für das ungesagte Drama: die Sprachlosigkeit eines jungen Mannes, der erst lernen muss, Verantwortung als menschliche, nicht verhandelbare Verpflichtung zu verstehen. Ohne die Figur zu romantisieren oder zu verurteilen, gelingt mit L’ENFANT ein eindringliches Porträt einer Person, deren Reise zur Selbsterkenntnis durch das Loslassen egoistischer Impulse beginnt und zugleich die gesellschaftlichen Strukturen bloßlegt, die diese Haltung geformt haben.
MI 9.4. 20 Uhr | SA 19.4. 19 Uhr
DEUX JOURS, UNE NUIT · ZWEI TAGE, EINE NACHT
B·F·I 2014 · 95 min · OmU · digitalDCP · FSK 6 · R/B: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne · K: Alain Marcoen · D: Marion Cotillard, Fabrizio Rongione, Pili Groyne, Simon Caudry, Catherine Salée u.a.
„Nach dem neuen Film der Dardenne-Brüder sieht man klarer, wie der Kapitalismus das Verhalten formt.“ (Peter Körte in: FAZ, 25. Oktober 2014) Die Protagonistin Sandra kehrt nach einer Depression an ihren Arbeitsplatz zurück, nur um zu erfahren, dass ihr Kollegium zwischen einer Prämie und ihrer Weiterbeschäftigung entscheiden musste – und sich mehrheitlich für die Prämie entschieden hat. Sandra bleibt nur ein Wochenende, um alle Kolleg*innen in Einzel-gesprächen zu überzeugen, ihre Entscheidung zu revidieren.Mit ihrer charakteristischen, reduzierten Bildsprache und ohne moralische Überhöhung erzählen die Dardennes von Sandras aufreibendem Weg, der zwischen Hoffnung und Resignation schwankt. In diesem individuellen Kampf spiegeln sich grundlegende Fragen nach Solidarität und sozialer Verantwortung wider, ohne einfache Antworten zu geben. DEUX JOURS, UNE NUIT beleuchtet die Verletzlichkeit des Einzelnen in einem neoliberalen System, in dem Konkurrenzdenken die menschlichen Beziehungen bedroht und individuelle Schicksale zu politischen Fragen werden.
MI 16.4. 20 Uhr | MI 23.4. 20 Uhr
LE FILLE INCONNUE · DAS UNBEKANNTE MÄDCHEN
B·F 2016 · 106 min · OmU · digitalDCP · FSK 6 R/B: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne · K: Alain Marcoen · D: Adèle Haenel, Olivier Bonnaud, Louka Minnella, Christelle Cornil, Jérémie Renier u.a.
Die junge Ärztin Jenny arbeitet aushilfsweise in einem sozial prekärenStadtteil von Lüttich in einer Praxis – wird allerdings bald eine gut bezahlte Anstellung in einer Privatklinik antreten. Nachdem sie eines Abends nach Ende ihrer Sprechstunde das Klingeln an ihrer Praxistür ignoriert, erfährt sie am folgenden Morgen von der Polizei, dass in der Nähe ihrer Praxis eine junge Frau afrikanischer Herkunft tot aufgefunden wurde. Die Überwachungskamera am Eingang zeigt, dass die Unbekannte, die keine Ausweispapiere bei sich trug, diejenige war, die an Jennys Tür geklingelt hatte. Das durchdringende Geräusch der Türklingel wird für Jenny zu einer quälenden Erinnerungan ihr Versäumnis. Von Schuldgefühlen getrieben, begibt sich Jenny auf die Suche nach der Identität des unbekannten Mädchens. Ihre Ermittlungen führen sie in soziale Milieus, die sonst im Verborgenen bleiben. Durch die ruhige, präzise Kamera und die sparsame Inszenierung entsteht eine erzählerische Nähe, die das Drama subtil und doch intensiv erfahrbar macht. LE FILLE INCONNUE verzichtet auf ein eindeutiges moralisches Urteil und stellt statt-dessen die Frage, wie weit individuelle Verantwortung reichen kann.
MO 21.4. 15 Uhr | FR 25.4. 19 Uhr
TORI ET LOKITA · TORI & LOKITA
B·F 2022 · 88 min · OmeU · digitalDCP · FSK 16 R/B: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne · K: Benoît Dervaux · D: Pablo Schils, Joely Mbundu, Charlotte De Bruyne, Tijmen Govaerts, Marc Zinga u.a.
Der Teenager Tori und die junge Frau Lokita, die sich ohne familiären Rückhalt durch ein Leben in prekären Verhältnissen schlagen müssen, durchleben als Geflüchtete im belgischen Lüttich einen Alltag zwischen Flucht und Anpassung. Ihre tiefe Verbundenheit ist zugleich Zuflucht und Überlebensstrategie. Während Tori mit seiner Aufenthaltserlaubnis die Schule besuchen kann, wird Lokita durch das Fehlen von offiziellen Papieren in die Kriminalität gedrängt. Zwischen den Forderungen ihrer Schleuser, den Erwartungen ihrer Familie in der Heimat und dem Druck des Alltags, verstärkt durch die zermürbende Bürokratie der belgischen Institutionen, scheint die Chance auf ein Leben in Freiheit unerreichbar. Die Dardenne-Brüder zeichnen mit ihrer gewohnt kargen Ästhetik und Handkameraarbeit ein zurückgenommenes, gleichwohl intensives Bild dieser beiden Figuren, das vor allem über Beobachtung und feine Gesten transportiert wird. Fern von didaktischer Moralisierung konzentriert sich der Film auf die Bedingungen einer Gesellschaft, in der Legalität und Humanität oftmals auseinanderdriften.
SO 27.4. 18 Uhr ZU GAST: LUC DARDENNE
LA PROMESSE · DAS VERSPRECHEN
F·B·LUX·TUN 1996 · 90 min · OmU · 35mm · ab 18 · R: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne · B: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne, Léon Michaux, Alphonso Badolo · K: Alain Marcoen, Benoît Dervaux · D: Jérémie Renier, Olivier Gourmet, Assita Ouédraogo, Frédéric Bodson, Hachemi Haddad u. a.
Der erste und zugleich international beachtete Spielfilm von Jean- Pierre und Luc Dardenne beleuchtet die moralische Entwicklung eines Jugendlichen in einem sozialen Milieu, das von Ausbeutung und Ungerechtigkeit geprägt ist. Im Zentrum steht Igor, ein 15-Jähriger, der seinem Vater Roger bei der illegalen Beschäftigung und Unterbringungvon Migrant*innen hilft. Igors Loyalität gegenüber seinem dominanten Vater gerät ins Wanken, als Amidou, ein illegaler Arbeiter seines Vaters, bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückt. Auf dem Sterbebett bittet Amidou Igor, sich um seine Frau und ihr neugeborenes Kind zu kümmern – ein Versprechen, das den Jungen vor eine existenzielle Entscheidung stellt. Die Dardennesinszenieren Igors inneren Konflikt ohne Pathos und mit großer Nähe zu den Figuren. Die moralische Entwicklung wird durch die präzise Beobachtung alltäglicher Handlungen und Entscheidungen greifbar. Der Film verzichtet auf einfache Antworten und zeigt, wie die Konfrontation mit Unrecht und Verantwortung das Bewusstsein eines Jugendlichen verändert. LA PROMESSE hinterfragt subtil die Bedingungen und Grenzen individueller Moral in einem System, das soziale Bindungen durch ökonomische Zwänge deformiert.
Im Anschluss: Publikumsgespräch mit Luc Dardenne
Moderation: Marcus Seibert
Vorführungen in der Filmwerkstatt Düsseldorf:
DO 27.3. 20 Uhr
LE SILENCE DE LORNA · LORNAS SCHWEIGEN
B·F·I·D 2008 · 109 min
DO 3.4. 20 Uhr
LE GAMIN AU VÉLO · DER JUNGE MIT DEM FAHRRAD
B·F·I 2011 · 87 min
DO 17.4. 20 Uhr
LE JEUNE AHMED · YOUNG AHMED
F·B 2019 · 84 min
Weitere Infos auf www.filmwerkstatt-duesseldorf.de.